Angelika A. Schlarb, Bielefeld & Ekkehart Paditz, Dresden (Hrsg.), kleanthes, Dresden 2016 (144 Seiten, 39 Abbildungen und 4 Tabellen inkl. Liste und Landkarte zu Kinderschlaflaboratorien in Deutschland mit DGSM-Zertifizierung, Stand v. 22.01.2016). ISBN 978-3-942 622-14-1. Herausgabe am 18.03.2016.
36 Autorinnen und Autoren berichten über bisher nicht veröffentlichte Ergebnisse und aktuelle Übersichten aus der Kinderschlafmedizin, Kinderpsychologie, Pädagogik und Gesundheitsökonomie. In diese Untersuchungen wurden mehr als 88.000 Kinder und Jugendliche einbezogen. Das Buch richtet sich an Kinder- und Jugendärzte, Psychologen, Kinder- und Jugendpsychiater, Neuropädiater, Pädagogen und alle weiteren Interessenten, die sich mit dem Thema Kinderschlaf auseinandersetzen möchten.
Schulbeginn, Vigilanz, Chronotyp und Gedächtnisbildung im Schlaf
Andrea Bosse-Henck, Jannik Sonntag und Rainer Koch schalten sich in die aktuelle Debatte um den morgendlichen Schulbeginn ein. Bei 17 Leipziger Gymnasisten der 10. Klasse zeigte sich, dass jüngere Schüler am Montagmorgen signifikant schneller als ihre älteren Mitschüler reagieren konnten (p=0,0153). Die Schüler, die der Gruppe mit frühem Schulbeginn um 8.00 Uhr zugeteilt wurden, erzielten tendenziell bessere Vigilanzleistungen als diejenigen, die erst 8.40 Uhr in die Schule kamen (63% vs. 22% siehe Ergebnisse im Einzelnen). Der Chronotyp hatte keinen Einfluss auf die morgendliche geistige Leistungsfähigkeit. Die meisten Jugendlichen waren „Mischtypen“ (n=12), während nur zwei bzw. drei Schüler eine „Eule“ (Abendtyp) bzw. eine „Lerche“ (Morgentyp) waren. In dieser Pilotstudie zeigte sich jedoch ein deutlicher Trend:
Wenig Schlaf am Wochenende war mit schlechteren Leistungen am Montagmorgen verbunden. 30 Minuten mehr Schlaf in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend erhöhten die Chance, in die Gruppe besserer Leistungen zu kommen, um 28%. Die Autoren ziehen daraus den Schluss, dass in Untersuchungen zu diesem Thema insbesondere auch auf das Alter und auf die Schlafdauer in den Tagen vor derartigen Untersuchungen geachtet werden sollte. Die gängige These, dass späterer Schulbeginn die Leistungsfähigkeit fördern wurde, konnte innerhalb dieser Pilotstudie nicht gestützt werden.
Kinderpsychologen weisen gleichlautend dazu darauf hin, dass zu wenig Schlaf auch bei kleineren Kindern mit vermehrter Aggressivität und mit der Verstärkung von ADHS-Symptomen verbunden ist sowie dass entspannte Eltern, die tagsüber nicht sofort auf jede Willensbekundung ihrer Kinder reagieren, nachts oft ruhiger schlafende Kinder haben (Angelika Schlarb, Isabel Brandhorst, Stefanie Jäger, Friederike Lollies, Bielefeld). Bei Puzzle-Spielen zeigten Kinder, denen eine Mittagsruhe gewährt wurde, mehr Freude als diejenigen, die keine Mittagsruhe hatten. Die Autorinnen entwickeln aus diesen und weiteren Ergebnissen ein Modell, in dem die Einflüsse, die sich auf emotionale Regulationen von Kindern auswirken, zusammengefasst werden.
Christoph Randler aus Heidelberg gibt auf der Grundlage von Untersuchungen an 25.000 Kindern einen Überblick über den derzeitigen Kenntnisstand zum Chronotyp bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis zum 30. Lebensjahr. Demnach wird der Chronotyp nur zu 25-50% durch genetische Faktoren geprägt. Unter 1460 Kindern im Alter von 0-6 Jahren fanden sich nur wenige „Eulen“ (1%) sowie überwiegend „Lerchen“ (56%) und „Mitteltypen“ (43%). Das Verhalten der Eltern wirkte sich deutlich auf die Verschiebung des Schlafverhaltens zwischen Wochentagen und freien Tagen aus; dieser sogen. „Soziale Jetlag“ ist deshalb auch für Kinder ein praxisrelevantes Thema.
Belohnung wirkte sich bei Lernaufgaben am Tage ungünstig auf Gedächtnisleistungen aus, während Aufgaben, die am Abend zu lernen waren und mit einer Belohnung verbunden wurden, morgens deutlich besser erfüllt werden konnten (Alexander Prehn-Kristensen, Annie Böhmig, Christian Wiesner, Anya Pedersen, Lioba Baving, Kiel). Die Autoren liefern damit einen weiteren Baustein zu den Kenntnissen über die Bedeutung des Schlafs für die Konsolidierung von Gedächtnisinhalten.
Chronotyp bei Kindern. © Foto: Christoph Randler, Tübingen.Diagnostik und Therapie
Magnus von Lukowicz und Christian Poets aus Tübingen erläutern, welche diagnostische Herausforderung die Abklärung einer extremen Tagesmüdigkeit im 9. Lebensjahr darstellen kann. Letztlich führte nicht die Untersuchung im Kinderschlaflabor, sondern die gezielte Anamnese in Verbindung mit Laborparametern zur richtigen Diagnose.
Narkolepsie ist in Deutschland in den letzten Jahren bei Kindern und Jugendlichen häufiger diagnostiziert worden. Bernhard Schlüter bestätigt diesen Trend anhand der umfangreichen Daten von 1995-2015 aus dem Einzugsbereich des Kinderschlaflabors in Datteln.
Dass chronisch-entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa häufig mit Schlafstörungen verbunden sind, ist bisher kaum bekannt. Ann-Kristin Manhart, Sara Maria Hellmann und Angelika Schlarb aus Bielefeld fassen den aktuellen Kenntnisstand zu diesem Thema zusammen. Bei Kleinkindern mit Neurodermitis sind ebenfalls häufig Schlafstörungen zu beobachten. Bei 40 Kindern verbesserte sich das Schlafverhalten nach verhaltenstherapeutischen Interventionen langfristig: Bei 80% dieser Kinder hielt der Interventionseffekt nach einem Jahr an sowie bei 70 bzw. 60% nach 4 und 9 Jahren (Kurt-André Lion, Dietmar Langer, Gelsenkirchen).
20% der Kinder mit Epilepsie haben gleichzeitig obstruktive Apnoen, die wiederum oft mit erhöhtem Körpergewicht assoziiert sind. Schlafentzug gilt als der häufigste Auslöser von epileptischen Anfällen. Epileptologen und Schlafmediziner stehen immer wieder vor der Herausforderung, schlafgebundene epileptische Anfälle von nichtepileptischen Ereignissen im Schlaf zu unterscheiden, da sich daraus erhebliche therapeutische Konsequenzen ergeben (Arne Herting, Tilman Polster, Bielefeld).
Alpträume treten bei 5% aller Grundschüler mehr als einmal pro Woche auf. Hierzu gibt es wirksame Interventionsmöglichkeiten (Angelika Schlarb, Isabel Bihlmaier, Stefanie Jäger, Maria Zschoche).
Fragebögen können die Erkennung von Schlafstörungen bei Kindern und Jugendlichen unterstützen. In einigen Vorsorgeheften sind Hinweise auf Schlafstörungen enthalten. Georg Handwerker aus Passau listet diese Materialien auf und gibt gezielte Hinweise, bei welchen Fragestellungen welcher Fragebogen hilfreich sein kann. Die diagnostische Palette wird neben der Polysomnografie, dem Langzeit-EKG und Langzeitblutdruckmessungen inzwischen durch die Möglichkeit der kontinuierlichen Aufzeichnung von Atemgeräuschen im Schlaf ergänzt (Volker Groß, Keywan Schrabi, Lukas Hoehle, Gießen; Wilfried Nikolaizik, Gießen und Marburg; Christof Urban, Bad-Hindelang-Oberjoch; Sebastian Kerzel, Regensburg; Ulrich Koehler, Gießen und Marburg). Mit einer Übersicht zur Therapie von Schlafstörungen im Säuglings-, Kleinkindes-, Schul- und Jugendalter von Alfred Wiater aus Köln-Porz, in der sich zahlreiche Praxistipps finden, wird das Thema Diagnostik und Therapie abgerundet. Nicht zuletzt wird auch auf gesundheitsökonomische und epidemiologische Fragestellungen im Zusammenhang mit dem DRG-System eingegangen (Ekkehart Paditz, Dresden und Bernhard Hoch, Augsburg).
Medizingeschichte
In der Prävention desplötzlichen Säuglingstodes (SIDS) gilt die Bauchlage als Schlafposition für Säuglinge als ein wesentlicher Risikofaktor. Ausgehend vom historischen Buchbestand der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel lässt sich nachweisen, dass seit Soranus von Ephesus (ca. 100 n.Chr.) bis ins 15.-17. Jahrhundert u.a. bei Bartholomäus Metlinger (1473), Eucharius Roesslin (1513) und Jakob Ruf (1554) auf die Rückenlage als Schlafposition von Säuglingen hingewiesen wurde. Die Empfehlung der Bauchlage ab 1931 stellte damit einen tragischen Traditionsbruch dar, der zahlreichen Säuglingen das Leben gekostet hat (Ekkehart Paditz, Dresden).
PDF-Kinderschlaflabore in Deutschland